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„Keine Zeit für Ideologien und politische Farbenspiele“

07.09.2022

Verbandstag: Genossenschaften sind wirtschaftlicher Eckpfeiler / Genossenschaftsverband Weser-Ems fordert lösungsorientierte Politik / Versorgungssicherheit stärker in den Fokus rücken / Konventionelle Landwirtschaft aufwerten / Tierhalter brauchen ver-lässliche Rahmenbedingungen / Europäisches Einlagensicherungssystem für Banken wird abgelehnt / Erneuerbare-Energien-Gesetz muss nachjustiert werden

 © MARKUS HIBBELER

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Das Bild zeigt (von links, hintere Reihe): Klaus Krömer, Vorsitzender des Rechnungsausschusses, die Verbandsdirekto-ren Axel Schwengels und Johannes Freundlieb, Jürgen Fuhler, Präsidiumsmitglied, und Heiko Plump, stellvertretender Verbandsratsvorsitzender. (vordere Reihe von links): Präsident der Landwirtschaftskammer Niedersachsen Gerhard Sch-wetje, Verbandsratsvorsitzender Johann Kramer, Dr. Andreas Martin, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Deut-schen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Ralph Zollenkopf, ehemaliger Verbandsratsvorsitzender, und das Präsidiumsmitglied Franz Meyer.

Oldenburg. Die mehr als 300 genossenschaftlichen Unternehmen mit rund 18.000 Mitarbeiter:innen sind eine wirtschaftliche Stütze in Weser-Ems und in weiten Teilen „systemrelevant“. Dies wurde auf dem Verbandstag des Genossenschaftsverband Weser-Ems e.V. (GVWE) gestern in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg deutlich und auch von dem per Video zugeschalteten Niedersächsischen Minister für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz Olaf Lies (SPD) und dem Präsidenten der Niedersächsischen Landwirtschaftskammer Gerhard Schwetje in ihren Reden betont. Darüber hinaus wurde vor den rund 280 Zuhörer:innen aus den Mitgliedsunternehmen sowie aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft vom GVWE eine Stärkung der konventionellen Landwirtschaft gefordert. „Der Ökolandbau allein kann die Versorgung mit hochwertigen und gleichzeitig bezahlbaren Lebensmitteln nicht sichern“, betonten die Verbandsdirektoren Johannes Freundlieb und Axel Schwengels. Das geplante Europäische Einlagensicherungssystem für Banken (EDIS) werde in der vorgeschlagenen Form zudem weiterhin abgelehnt. Die Einführung wäre mit erheblichen Nachteilen auch für die 1,2 Millionen Kunden:innen der mehr als 50 Volksbanken und Raiffeisenbanken zwischen Weser und Ems verbunden.

Die Energiewende brauche zudem bessere Bedingungen für eine breite Bürgerbeteiligung, wie sie die 70 Energiegenossenschaften in Weser-Ems ermöglichen. Die Reform des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) mache diesbezüglich zwar Hoffnung, jedoch seien erhebliche Nachjustierungen erforderlich. „Die Vergütungssätze insbesondere im Bereich Solarstrom sind weiterhin zu niedrig und bieten zu wenige Anreize. Damit wird die Energiewende nicht gelingen“, so Freundlieb. Er forderte weiter, die Belastungen wie sie für die Unternehmen unter anderem durch das ab 2023 geltende und durchaus sinnvolle Lieferkettengesetz entstehen würden, zu verschieben. Die aktuellen Krisen würden die Wirtschaft bereits über Gebühr strapazieren.  

Genossenschaften systemrelevant und Teil der Lösung

Die regionale Verbundenheit, die solidarische Ausrichtung und die genossenschaftliche Vielfalt seien gerade in Krisenzeiten wichtig, um die aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen erfolgreich meistern zu können, betonte der Vorsitzende des GVWE-Verbandsrats Johann Kramer. Der Vorstandsvorsitzende der Raiffeisen-Volksbank eG in Aurich folgt in dieser Funktion Ralph Zollenkopf, langjähriger Vorstandsvorsitzender der Raiffeisen-Volksbank Varel-Nordenham eG, der in diesem Jahr in den Ruhestand getreten ist, nach. Das Geschäftsjahr 2021 habe die wirtschaftliche Bedeutung der Genossenschaften eindrucksvoll bestätigt. Die Volksbanken und Raiffeisenbanken, die Ländlichen Genossenschaften, die Energiegenossenschaften und die sonstigen genossenschaftlichen Unternehmen aus den Bereichen Wohnen, Medizin, Gastronomie oder auch Kultur hätten trotz der Auswirkungen der Corona-Pandemie wirtschaftlich erfolgreich und gesellschaftlich bereichernd agiert. Insbesondere durch einen hohen Anteil an Eigenkapital seien die Genossenschaftsbanken sowie die Warengenossenschaften in Weser-Ems außerordentlich krisenfest. Dies ermögliche auch, dass regionale Kunst-, Kultur- und Umweltprojekte in der Region mit genossenschaftlichen Spenden von insgesamt 2,5 Millionen Euro unterstützt werden konnten. Der GVWE selbst sei bei einem Jahresumsatz von rund 20 Millionen Euro, den knapp 200 Mitarbeiter:innen erwirtschaften, leistungsstark, mitgliederorientiert und effizient aufgestellt.

Politik muss Lösungen liefern

Die Verbandsdirektoren Schwengels und Freundlieb betonten, dass die Politik die mittelständische Wirtschaft durch lösungsorientiertes Handeln und verlässliche Rahmenbedingungen stärken müsse. „Es ist nicht die Zeit für Ideologien und politische Farbenspiele“, sagte Freundlieb und kritisierte unter anderem die lange Diskussion um das Tierwohllabel oder die steigenden und unverhältnismäßig ausgestalteten Auflagen im Bankensektor. Die aktuelle „Zeitenwende“ erfordere zudem ein neues Denken und neue Prioritäten, um den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geopolitischen Wandel meistern zu können.

Versorgungssicherheit in den Fokus rücken

Unter anderem müsse die Versorgungssicherheit stärker in den Fokus rücken. Dafür brauche es vor allem eine starke konventionelle heimische Landwirtschaft, deren Rahmenbedingungen verbessert werden müssten. Die sich abzeichnenden weltweiten Lebensmittelkrisen könnten nicht mit einer global ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft bewältigt werden. Natürlich solle der Bio-Anbau ein wichtiges Standbein der Agrarproduktion bleiben. „Untersuchungen zeigen jedoch, dass mit der ökologischen Landwirtschaft weltweit nur etwa die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung ernährt werden kann“, sagte Freundlieb mit Bezug auf aktuelle Studien. Die weltweiten Entscheidungsträger müssten darüber nachdenken, wie hochwertige Lebensmittel möglichst effizient und günstig produziert werden könnten. Die von der Europäischen Union angestrebte Verdreifachung der Biolandwirtschaft sei der falsche Weg. „Vielmehr brauchen die konventionellen Landwirte wieder mehr Respekt und Wertschätzung“, sagte der Verbandsdirektor. Ansonsten könnten sich künftig nur noch Besserverdienende hochwertige Lebensmittel leisten.

Tierhalter brauchen verlässliche Rahmenbedingungen

Aktuell hätten vor allem die Tierhalter und Viehvermarkter zu kämpfen. „Wenn wir weiterhin regional erzeugtes und qualitativ hochwertiges Fleisch essen wollen, muss sich die Politik überlegen, wie sie für die Tierhaltung und insbesondere für die Schweinehalter Perspektiven durch verlässliche Rahmenbedingungen schaffen kann. Hier fehlt es an klaren Vorgaben“, kritisierte Freundlieb das vielfach zögerliche politische Vorgehen. Der landwirtschaftliche Strukturwandel habe zudem erhebliche Auswirkungen auf den für Weser-Ems bedeutenden Agrar- und Ernährungssektor. Unter anderem sinke durch den Strukturwandel die Zahl der Schweine und der Milchkühe kontinuierlich. Darauf müssten sich auch genossenschaftliche Molkereien, Futtermittelhersteller und Viehvermarkter einstellen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Druck auf die Landwirtschaft steige zudem. Diese Transformation im Agrarbereich werde vom GVWE aktiv begleitet, um die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Mitgliedsunternehmen zu stärken. Gleichzeitig betonte Freundlieb, dass die Bewältigung dieses Wandels eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe sei.

Ländliche Genossenschaften bleiben verlässlicher Partner

Die Ländlichen Genossenschaften hätten sich trotz der schwierigen Lage auch 2021 einmal mehr als Partner von Landwirtschaft und Verbrauchern bewährt. Die 65 Waren- und Viehvermarktungsgenossenschaften sowie die genossenschaftlichen Molkereien hätten ihre Umsätze steigern können und seien verlässliche Dienstleister, Lieferanten und Produzenten gewesen, sagte Verbandsdirektor Schwengels: „Dies hat sich trotz der krisenbehaften jüngsten Monate auch im ersten Halbjahr 2022 bestätigt.“ 

EDIS hebelt Institutssicherung aus

Im Bankenbereich warnte Freundlieb vor der Einführung des Europäischen Einlagensicherungssystems (EDIS) in seiner vorgeschlagenen Ausgestaltung. Die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Voraussetzungen dafür seien nicht erfüllt. Damit würde die funktionierende Institutssicherung der Volksbanken und Raiffeisenbanken abgeschafft werden und zu Lasten der deutschen Sparer:innen gehen. Dass die Bundesregierung EDIS die Zustimmung verweigert habe, begrüßt der GVWE. Ebenso müsse die EU die Verhältnismäßigkeit bei regulatorischen Auflagen wahren. Entsprechende Vorgaben müssten stärker an die Institutsgrößen angepasst werden. Dies sei aktuell häufig nicht der Fall, wodurch die Genossenschaftsbanken überdurchschnittlich belastet würden. Es gelte, die regional verankerten Volksbanken und Raiffeisenbanken zu stärken. Diese finanzierten einen großen Teil der privaten und mittelständischen Investition in Digitalisierung, Klimaschutz und Energiewende. Die Genossenschaftsbanken seien somit als Finanzierer des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels systemrelevant und ein Stabilitätsanker.

VR-Banken mit Zuwächsen im 1. Halbjahr 2022

Dabei hätten die mehr als 50 Genossenschaftsbanken Weser-Ems ihre robuste Verfassung auch im ersten Halbjahr 2022 bestätigt. Mit einem Betriebsergebnis von 0,86 Prozent der durchschnittlichen Bilanzsumme vor Bewertung hätten die Häuser zur Jahresmitte ein solides Ergebnis eingefahren. Dieses liege nur leicht unter dem guten Vorjahresniveau. Die Kreditvergabe habe bis zur Jahresmitte um 4,63 Prozent auf insgesamt rund 27,6 Milliarden Euro zugelegt. Die Einlagen der Kunden:innen weisen in diesem Zeitraum ein Plus von 1,83 Prozent und damit ein Gesamtvolumen von mehr als 24 Milliarden Euro auf. Damit werde die 2021 erreichte Bilanzsumme von 35,93 Milliarden Euro zum Jahresende deutlich steigen. Allerdings gebe es durch die Kursverluste an den Kapitalmärkten sowie durch die Zinswende ausgelöste Bewertungsänderungen auch kurzfristig spürbare Belastungen für die Bankbilanzen. Perspektivisch bewertete Freundlieb den jüngsten Zinsanstieg positiv, weil dadurch die Gewinnmargen im Kreditgeschäft wieder auf ein angemessenes Niveau steigen würden. Die kräftige Erhöhung der Leitzinsen im Juli durch die Europäische Zentralbank (EZB) sei zwar ein später, aber richtiger Schritt gewesen. Die Bekämpfung der Inflation sei wichtig und müsse konsequent vorangetrieben werden.

Fehlende Anreize: Vergütungssätze für Solar zu niedrig

Im Bereich der Erneuerbaren Energien forderte Freundlieb deutlichen Nachbesserungen, damit Investitionen und Projekte für Energiegenossenschaften wieder attraktiv würden. Diese würden eine breite Bürgerbeteiligung ermöglichen und damit die Akzeptanz der Energiewende erhöhen. Die jüngste Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG 2023) habe erfreulicherweise viele der vom Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. (DGRV) und dem GVWE geforderten Maßnahmen aufgegriffen. „Für die ambitionierten Klimaziele mit einer 80-prozentigen regenerativen Energieversorgung bis 2030 wird das aber nicht reichen“, sagte Freundlieb. Die Vergütungssätze für Solarstromprojekte müssten erhöht und die Ausnahmeregelungen für Bürgerenergiegesellschaften weiter gefasst werden. Auch das so genannte Energy Sharing müsse attraktiv geregelt werden, damit von Genossenschaften produzierter grüner Strom auch direkt vor Ort von deren Mitgliedern genutzt werden könne. Diese lokale regenerative Stromversorgung kann nach Ansicht von Fachleuten einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten.

Genossenschaftliche Werte gefragt

Auch wenn einige Vorzeichen und Entwicklungen im ersten Halbjahr positiv seien, sei es für eine verlässliche Jahresprognose aufgrund der momentanen weltweiten Unsicherheiten noch zu früh, betonten die Verbandsdirektoren. Die hohen Preise für Energie und Rohstoffe sowie die enge Versorgungslage belasteten die Ländliche Genossenschaften in hohem Maß. Die Entwicklung der Immobilienmärkte sei weder für die Bau- und Wohnungswirtschaft noch für den Finanzsektor hinreichend verlässlich absehbar. Der Klimawandel sowie die globale geopolitischen Lage, die sich auch auf die regionalen Wirtschaftsakteure auswirke, die Inflation antreibe und eine zunehmende private Kaufzurückhaltung nach sich ziehe, stellen ebenfalls  schwer kalkulierbare Faktoren dar. Sicher sei jedoch, dass „unsere genossenschaftlichen Werte wie Solidarität und Regionalität auch in Krisenzeiten Halt geben und helfen, Chancen zu nutzen und die Zukunft zu gestalten“, sagte Freundlieb.